Salutogenese und Demenz – Vertiefung

Was macht das Miteinander in einer Gemeinde lebendig? Was gibt Menschen das Gefühl von Sinnhaftigkeit und Gestaltungsfähigkeit im Leben? Wie können die menschlichen Grundbedürfnisse nach erfüllter Beziehung, nach Wahrhaftigkeit und nach echter Anerkennung im Gemeindealltag befriedigt werden? Können Kirchengemeinden ein Modell für gelingende Gemeinschaften und ganzheitliches Leben sein?

Und – unter dem Stichwort „Inklusion“: welchen Platz haben hier Menschen, die aufgrund verschiedener Besonderheiten körperlicher, geistiger oder seelischer Art durch ein standardisiertes oder auch normatives Umfeld an der gesellschaftlichen Teilhabe behindert werden? Wie kann eine Kirchengemeinde der menschlichen Vielfalt gerecht und tatsächlich inklusiv werden? Was ist im Umgang miteinander zu beachten, damit niemand ausgegrenzt wird? Und weit mehr noch: wie kann das Zusammenleben von allen gemeinsam gestaltet werden? Wie kann jeder eingeladen sein, seine Blüte auf der „menschlichen Blumenwiese“ zum Erblühen zu bringen?

Auf der Suche nach Antworten auf diese Fragen muss man etwas tiefer schauen. Maßnahmen zur „Barrierefreiheit“ sind wichtig und ein erster Schritt, aber sie reichen bei Weitem nicht aus. Die Suche dringt tief in gesundheitliche Bereiche ein, aber ebenso in gesellschaftliche, politische und spirituelle, ist also tatsächlich ganzheitlich.

Verstehbarkeit, Gestaltbarkeit, Sinnhaftigkeit. Das sind die drei Faktoren, die es nach dem Konzept der Salutogenese im Leben braucht, damit ein Mensch nicht nur glücklich und zufrieden ist, sondern auch möglichst lange gesund bleibt, oder, wenn er krank ist, möglichst schnell wieder gesund wird.

Wir leben in einer Welt, in der man eigentlich nichts mehr versteht. Das erlebt man schon, wenn man nur abends die Nachrichten anschaut. Die Worte hört man, aber auch als noch so gebildeter Mensch versteht man nicht, was da in Afghanistan oder China passiert. Man weiß, dass man eigentlich etwas tun müsste, aber es geht nicht, und es würde nichts ändern. Und schließlich: Wo haben Menschen heute noch das Gefühl, dass das Leben, das sie führen, Sinn verleiht oder in einen größeren Kontext sinnhaft eingebettet ist? „So, wie wir jetzt leben, müssen wir uns nicht wundern, dass die Selbstheilungskräfte und damit das regenerative Potenzial in unseren Gehirnen immer mehr versiegen.“ meint Gerald Hüther, der bekannte Neurobiologe, der zu dem Konzept der Salutogenese und der sog. Neuro-Regeneration geforscht hat. Er beschreibt in seinem Buch „raus aus der Demenz-Falle“, wie das Gehirn bis ins hohe Alter jederzeit neue Verknüpfungen herstellen und in einem entsprechenden Umfeld funktionsfähig bleiben kann.

In ihrem neuen Buch „American Dementia – Gehirngesundheit in einer ungesunden Gesellschaft“ führen die Autoren Peter Whitehouse und Daniel George aus, warum Demenz ein charakteristisches Merkmal unserer aktuellen hyperkapitalistischen Ära ist und wie die Kultur des Individualismus und der neoliberalen Marktorientierung maßgeblich für die Entstehung von Demenz und schwierigen Lebenssituationen von Betroffenen verantwortlich ist. „Die beste «Intervention» bei Demenz ist eine gesündere Gesellschaft!  Dies bedeutet ein erneutes Bekenntnis zu umfassendem Wohlstand, öffentlicher Gesundheit, Prävention, nachhaltigen Ökosystemen und verbesserter gerechter Bildung“, so die Autoren.

Auch Peter Wißmann, Initiator des Team WAL (Wachstum ab der Lebensmitte) schreibt:

„Menschen mit einer neurokognitiven Behinderung können ebenso wie andere Personen das gesellschaftliche Leben mitgestalten und an ihm teilhaben. Es ist die Aufgabe der Gesellschaft, die hierzu notwendigen Voraussetzungen und Rahmenbedingungen zu schaffen.  Personen mit einer neurokognitiven Behinderung verlieren nicht die Fähigkeit, Neues zu lernen und sich geistig, seelisch und spirituell weiterzuentwickeln.  Defizitäre Bilder über Menschen mit einer neurokognitiven Behinderung müssen verändert und überwunden werden.  Stereotype, pathologisierende und stigmatisierende Sprachmuster und Begrifflichkeiten, wie sie mit Blick auf alte und kognitiv veränderte Menschen häufig vorkommen (z.B. ‚Demenz‘), müssen zugunsten einer wertschätzenden und einladenden Sprache verändert werden.

Die Kognitionsverherrlichung in unserer Gesellschaft führt zu einer Missachtung wesentlicher Bereiche, die den Menschen auszeichnen. Sie trägt maßgeblich dazu bei, dass Menschen mit verminderten kognitiven Fähigkeiten pathologisiert und ausgegrenzt werden.  Leiblichkeit, Emotionalität, Intuition, Spiritualität und Kreativität sind Kraftquellen, die dem Menschen prinzipiell zur Verfügung stehen. Wo sie als Folge der Überbewertung von Kognition verloren gegangen sind, müssen sie neu entdeckt und gefördert werden.“

Gibt es eigentlich etwas, was man von „Demenzkranken“ lernen kann? Gibt es eine Haltung, die es auch einem scheinbar „mit- beiden- Beinen- im- Leben- Stehenden“ ermöglicht, neue Erfahrungen zu machen? In eine Welt einzutauchen, die einem aus rationaler Perspektive verschlossen ist?  Der Autor Erich Schützendorf beschreibt es in seinem- sehr empfehlenswerten! –  Buch „Anderland entdecken, erleben, begreifen“ so: „1976 begegnete ich zum ersten Mal Menschen mit Demenz und sie haben mich sofort fasziniert. Wenn ich bei ihnen war, befand ich mich in einem anderen Land. Hier galten nicht mehr Rationalität und Funktionalität wie in dem mir vertrauten Land, hier hatten Gefühle, Sinne und Zweckfreiheit Vorrang.“

Dieser Haltung kann man sich annähern. Sie ist lohnend – nicht nur, um Menschen mit einer Demenz hilfreich begegnen zu können, sondern um selber an Lebensqualität zu gewinnen. Denn nicht selten steht das, was wir als „Funktionieren“ bezeichnen, bereichernden Erfahrungen eher im Weg.

Für Kirchengemeinden und unser gesellschaftliches Zusammenleben allgemein stellt sich die Frage, wie ein Zusammenleben in diesem Sinne gestaltet werden kann? An welchen Stellen wäre ein grundlegendes Umdenken erforderlich? Kann man über diese Fragen gemeinsam nachdenken und damit schon ein Stück Salutogenese umsetzen? Welchen Impuls braucht ein jeder/ eine jede, um zu erkennen, dass es wichtig ist, die üblichen Denkmuster zu überwinden und über Inklusion nachzudenken – zu verstehen, dass wir ein zusammenhängender Organismus sind, in dem alle gemeinsam zum Funktionieren beitragen und alle gleichermaßen betroffen sind?

Anja Pinkert, Projekt „Inklusive Nachbarschaft“ im GenerationenNetz Reichelsheim und Fachstelle Demenz, Diakonisches Werk Odenwald

Miteinander und füreinander in Reichelsheim im Odenwald